Kurze Meßbetrachtung 

20. Teil

16. Kanon (Fortsetzung)

Im Buch Levitikus des Alten Testamentes, in dem es im großen und ganzen um die levitische Opfergesetzgebung geht, lesen wir über die Sühnegebräuche am großen Versöhnungstag, Aaron, der Bruder Moses` und erste Hohepriester, sollte zwei „Böcke nehmen
und sie vor den Herrn an den Eingang des Offenbarungszeltes stellen. Aaron soll über die beiden Böcke das Los werfen, ein Los für den Herrn, das andere für Asasel. [...] Den Bock aber, auf den das Los für Asasel gefallen ist, soll er lebend vor den Herrn stellen, damit er an ihm die Sühne vollziehe
und ihn für Asasel in die Wüste schicke (Lev 16,7-10).

(P. Eugen Henne, O.M.Cap., erläutert in seiner Übersetzung des Alten Testamentes (Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1936, S. 229): „Asasel ist nicht der Name des Tieres oder die Bezeichnung des Ortes, wohin dasselbe gebracht wurde, sondern der Name eines Wesens, das Gott entgegengesetzt
ist, d.i. des bösen Feindes. Asasel bedeutet wahrscheinlich ´Widersacher Gottes´“).
Und nachdem Aaron nach einem bestimmten Ritual die Entsündigung des Heiligtums, des Offenbarungszeltes und des Altars vollendet habe, sollte „er den noch lebenden Bock herbeiführen. Aaron lege dem lebenden Bock seine beiden Hände auf den Kopf und bekenne über ihm alle Verschuldigungen der Israeliten und alle Übertretungen, die sie begangen haben. Er lade sie auf den Kopf des Bockes und lasse diesen durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste bringen. So soll der Bock alle ihre Verschuldigungen mit sich fort in eine abgelegene Gegend tragen. In der Wüste lasse man dann den Bock frei“ (Lev 16,20-22).


Israel war sich seiner sittlichen Vergehen vor dem Herrgott bewusst. Es wusste daher auch um die Notwendigkeit der Sündenvergebung, wollte es von Ihm nicht verworfen, sondern Gemeinschaft
mit Ihm haben. Und die ganze Konzeption des Alten Bundes bestand darin, dass eben vor allem Tiere,
die für liturgische Opfer bestimmt waren, durch ihr Sterben die Entsühnung der menschlichen Schuld bewirken sollten. Wenn auch der Mensch selbst die Strafe für seine vor Gott angehäufte Schuld
zu tragen hätte, ging man davon aus, dass durch die Darbringung des Lebens eines Tieres anstelle des Lebens des Menschen dieser (nach dem Grundsatz Leben für Leben) die Vergebung seiner Sünden erhalte.
Und die eindrucksvolle Zeremonie des alttestamentarischen großen Versöhnungstages bestand darin, dass eben einem Bock, dem sogenannten Sündenbock (!), durch die Auflegung des Hände des Hohenpriesters und die gleichzeitige Aufzählung der menschlichen Vergehen diese Schuld der Menschen übertragen würde. Und indem das Tier in die Wüste gebracht werden sollte, wo es schließlich auch eingehen musste, spielte man auf die Trennung von der eigenen Schuld, auf die Vernichtung der Sünden an. Wieder Henne: „Das mit den Sünden des Volkes gleichsam behaftete Tier wird dem Satan übergeben (20-22). Der symbolische Akt sollte die Befreiung des Volkes von seinen Sünden andeuten, die ihm am Versöhnungstage erlassen wurden“ (ebd.)


Nun kann aber kein Tier der Welt irgendeine menschliche Schuld tilgen, weil es nicht einmal Verstand und freien Willen besitzt. Auch kein Mensch kann durch sein eigenes Opfer einen anderen Menschen vor Gott erlösen! Nur Gott selbst kann die gegen Ihn gerichtete Sünde vergeben und aus der Welt schaffen!
Daher ist Er auch in Jesus Christus wahrer Mensch geworden, in allem uns, Menschen, gleich, nur die Sünde ausgenommen, damit Sein Opfer ein wirkliches stellvertretendes Leiden und Sterben sein könne und kein bloßer Schein werde. Somit ist nur der Gottmensch Jesus Christus in der Lage, bei Gott gültige Sühne für unsere Sünden zu leisten, unsere Sünden wirksam auf sich zu laden, uns zu entsündigen und damit aus der Gewalt des Teufels zu befreien und das übernatürliche Leben zu schenken! Er allein ist das wahre „Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünde der Welt“ (Joh 1,29)!


Und um diese große Wahrheit eindrucksvoll zu unterstreichen, sieht der Römische Messritus in Anspielung an die alttestamentarische Zeremonie beim Gebet Hanc igitur, welches dem „Communicantes“ folgt, vor, dass der zelebrierende Priester seine beiden Hände über den Gaben von Opferbrot und -wein ausbreitet! Da ja das eucharistische Opfer des Altares die unblutige
Erneuerung und die sakramentale Gegenwärtigsetzung des Kreuzesopfers Jesu Christi in die jeweiligen Zeit und Raum hinein ist, wird auf diese Weise der sünende und sündentilgende Charakter
der Heiligen Messe unterstrichen. Nicht das levitische Sündenbock bewirkt die wirksame Entsündigung des Volkes Gottes, sondern die an unserer Statt vollzogene Hingabe des göttlichen Erlösers Jesus Christus an Seinen himmlischen Vater. Und diesem Opfer, dem Kreuzesopfer, dürfen wir ja sakramental-verborgen durch die Darbringung des von Christus selbst gestifteten liturgischen Opfers des Neuen Bundes, des Messopfers, beiwohnen!


Und mit dem Inhalt des Gebetes Hanc igitur unterstreicht die katholische Kirche erneut ihre Bitte um die wohlgefällige Annahme des eucharistischen Opfers: „So nimm denn, Herr, wir bitten Dich, diese Opfergabe Deiner Diener, aber auch Deiner ganzen Familie huldvoll an. Leite unsere Tage in Deinem
Frieden, bewahre uns gütig vor der ewigen Verdammnis und reihe uns ein in die Schar Deiner Auserwählten. Durch Christus, unseren Herrn. Amen.“ Es wird hier ebenfalls angezeigt, zu welchem Zweck das Opfer dargebracht, was davon erhofft wird. Es geht um die zwischen Gott und dem Menschen Frieden stiftende Gnade, „mit Einschluss aber auch all dessen, was der geistlichen und leiblichen Wohlfahrt des einzelnen und dem gedeihlichen äußeren Bestande der Kirche von Nutzen ist:
Befreiung von äußerer Verfolgung, von innerer Spaltung, Ruhe und Sicherheit im bürgerlichen Leben. Ferner aber betet der Priester auch um den ewigen Frieden in Gott, um Bewahrung vor ewiger Verdammnis und um Teinahme an dem seligen Lose der Auserwählten im Himmel“ (Eisenhofer, L., Handbuch der katholischen Liturgik. Band II, Freiburg 1933, S. 179).

Am Gründonnerstag sowie in der Osterund Pfingstwoche erhält das „Hanc igitur“ auf den Charakter der jeweiligen Zeit anspielende Zusätze. In der Osterund Pfingstwoche heißt es zwischen den beiden Sätzen des „Hanc igitur“ zusätzlich: „... Wir bringen sie Dir auch für jene dar, die Du erbarmungsvoll aus dem Wasser und dem Heiligen Geist wiedergeboren, denen Du Nachlassung all ihrer Sünden erteilt hast. ...“ Und am Gründonnerstag wird unter Handausbreitung gebetet: „So nimm denn, Herr,
wir bitten Dich, diese Opfergabe Deiner Diener, aber auch Deiner ganzen Familie huldvoll an, die wir Dir darbringen zur Feier des Tages, an dem unser Herr Jesus Christus Seinen Jüngern die Feier der Geheimnisse Seines Leibes und Blutes übertrug. Leite unsere Tage...“
h) „Baut der Herr nicht das Haus, so mühen sich umsonst, die daran bauen. Hütet der Herr nicht die Stadt, so wacht vergeblich der Wächter“ (Ps 126,1). Die katholische Kirche weiß, dass alles, was ein Mensch im Hinblick auf die Ewigkeit beginnt, nur dann gedeihen und Gott wohlgefällig werden kann,
wenn es in Seinem Namen begonnen und von Ihm begleitet wird. Und um so mehr bedarf es dieser sogenannten Schirmherrschaft Gottes, wenn es sich um den Vollzug des heiligen Opfers des
Neuen und Ewigen Bundes handelt!


Deshalb fleht die Kirche unmittelbar vor der Konsekration der Opfergaben, dem Mittel- und Höhepunkt der Liturgie, den göttlichen Segen nochmals auf eine sehr eindringliche Weise auf Opferbrot und Opferwein herab (Quam oblationem): „Diese Opfergabe mache Du, o Gott, wir bitten Dich, huldvoll in jeder Hinsicht zu einer  gesegneten,  eingetragenen,  gültigen, geistigen und angenehmen, damit sie uns werde  Leib und  Blut Deines vielgeliebten Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus“.
„Die Dringlichkeit des Gebetes verraten auch die hier gehäuften Ausdrücke: Gott möge das Opfer segnen (´benedictam´), es in sein Eigentum übernehmen (´adscriptam´), es zur gültigen (´ratam´), der wahren Idee des Opfers entsprechenden (´rationabilem´) und darum vor Gott wohlgefälligen (´acceptabilem´) Oblation der Kirche machen, damit sie dann ganz und gar würdig sei, in Christi
Fleisch und Blut verwandelt zu werden.“ (Eisenhofer, L., ebd. S. 179)
Die fünf Kreuze, die dabei vom Priester über den Opfergaben gemacht werden, gehören zu den ältesten Kanonkreuzen, die in Handschriften wiederkehren, und drücken hier symbolisch aus, um was in Worten gefleht wird: die Segnung der Gaben!


Zugleich aber charakterisieren sie die heilige Messe als Darstellung und Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers, welches ja im Messopfer über Zeit und Raum hinweg sakramental aktualisiert wird. Denn die fünf Kreuze erinnern an die fünf Wundmale Christi, welche Ihm beim Vollzug des Erlösungsopfers angetan wurden.

P. Eugen Rissling

 

 

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