Vom Wert der Zeit

  Und wieder ist kürzlich ein altes Jahr zu Ende gegangen und ein neues hat begonnen. Als ich jung war, da konnte die Zeit bisweilen nicht schnell genug vorbei gehen, weil man ja möglichst schnell groß und erwachsen werden wollte. Besonders als Schüler hatte man manchmal den Eindruck, als ob die Zeit fast stehen bleiben würde, weil man ja etwa die Schule, in die man nicht immer gern gegangen ist, bald beenden und hinter sich lassen wollte, um am vermeintlich vollwertigen und interessanten Leben der Erwachsenen teilnehmen zu können und zu dürfen.
Ich erinnere mich, wie ältere Leute damals davon gesprochen haben, wie schnell denn die Zeit für sie vorbeigehen würde, wie bald sie bereits ein bestimmtes mehr oder weniger hohes Alter erreicht hätten. Und heute, da ich - statistisch gesehen - schon mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir habe, gewinne ich mehr oder weniger denselben Eindruck, als ob die Zeit jedes Jahr schneller vorbeigehen würde. So versteht man, wie es zur Entstehung der Redewendung kommen konnte, die Zeit würde richtig fliegen!
Man bedenke nur, es sind zum Beispiel schon zwanzig Jahre seit dem politisch und gesellschaftlich äußerst bedeutsamen Ereignis des Falls der Berliner Mauer vergangen und ganze zehn Jahre seit dem so genannten Millenium, als man nämlich vor dem Jahreswechsel 1999/2000 viel und in großer Sorge von einem befürchteten Zusammenbruch der Computersysteme gesprochen hatte. Man hat den Eindruck, als ob sich dies alles erst gestern oder höchstens vorgestern ereignet hätte, in Wirklichkeit aber sind seit jener Ereignisse schon so viele Jahre verflogen. Vielleicht machen Sie, verehrte Leser, eine ähnliche Erfahrung, als ob die Zeit immer schneller vergehen würde!
Und so wird es einem umso bewusster, wie wertvoll denn die Zeit eigentlich ist! Wenn man auf sein bisheriges Leben zurückschaut, hat man doch nicht selten das Gefühl, als ob man auch eine gewisse Zeit vergeudet hätte. Entweder habe man sie falsch genutzt oder einfach sinnlos verplempert. Sicherlich wird hiermit nicht jene Zeit gemeint, die wir zum Beispiel zur Erholung und Entspannung aufbringen, oder um unseren Hobbys und sonstigen interessanten Neigungen nachzugehen. Dies alles braucht der Mensch natürlich auch, denn wenn er sich nicht zwischendurch entspannt, kann er sich auch nicht immer wieder anspannen, um seinen Lebensaufgaben nachzugehen.
Nein, die Zeitverschwendung, von welcher hier die Rede ist, ist darin zu sehen, dass wir zum Beispiel rasch lieblosen Gedanken nachgehen bzw. nachgeben oder (viel zu lang) Groll gegen jemand empfinden oder unser Herz und unseren Geist allzu bereitwillig für Egoismus, Hartherzigkeit oder verschiedene andere Gehässigkeiten öffnen. Wenn man ehrlich ist, so belasten doch solche Empfindungen und Gefühle unseren Geist ziemlich stark, indem sie uns nicht nur nicht positiv voranbringen, sondern wegen ihres negativen und letztendlich zerstörerischen sittlichen Charakters im Gegenteil um einiges zurückwerfen.
Oder man hat einen nennenswerten Fehltritt begangen, den man auch selbst zutiefst bedauert und bereut, und musste dann viel Kraft und Energie darauf verwenden, den angerichteten Schaden zu beseitigen bzw. wiedergutzumachen. Wie schnell hat man nämlich etwas kaputtgemacht - das Vertrauen bei den anderen verloren, den eigenen guten Ruf zerstört oder die persönliche Glaubwürdigkeit ruiniert - und wie mühsam und langwierig ist der Weg, das ganze zu “reparieren” bzw. wieder in Ordnung zu bringen.
So stellt dies alles doch eine gewaltige Vergeudung unserer wichtigen geistigen wie physischen Ressourcen dar, zumal wir diese darauf verwendete Zeit und Kraft dann bei der Bewältigung unserer positiven Aufgaben und Pflichten oft vielleicht sogar schmerzlich vermissen. Statt mit jemand zum Beispiel bei einer wichtigen Aufgabe fruchtbar zusammenzuarbeiten, muss man wegen des eigenen zuvor begangenen Fehlers zuerst um das Vertrauen werben und versuchen, den anderen von der Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit der eigenen Absichten zu überzeugen. Oder statt am nächsten Tag seine Pflicht zu tun und etwas Sinnvolles zu vollbringen, muss zum Beispiel jemand, der am Tag zuvor entweder zu tief ins Glas geschaut hat oder wegen irgendeiner sinnlosen Beschäftigung viel zu spät ins Bett gekommen ist, ja zunächst seinen Rausch ausschlafen bzw. die Müdigkeit und eventuelle Kopfschmerzen in den Griff kriegen. Oder wie viel Mühen kostet es uns bisweilen, unsere Gedankenwelt wieder zu reinigen und zu ordnen, nachdem man irgendwelchen unanständigen Vorstellungen nachgegangen war. Und wie viel an einer solchen sprichwörtlich verlorenen Zeit hat jeder von uns nicht leider schon auf seinem Lebenskonto zu verzeichnen!?!
Ja, die Zeit ist ein richtiges und wertvolles Geschenk Gottes! Sie soll von uns eben so eingesetzt und genutzt werden, dass wir damit etwas Gutes und Sinnvolles erreichen, was uns dann für Zeit und Ewigkeit von Nutzen sei. Sie ist auch eine Art Talent oder Pfund Gottes, von welchem Jesus im Evangelium spricht und welches uns von Ihm gegeben bzw. anvertraut wird, um möglichst viele so genannte Schätze für das Himmelreich zu “erwirtschaften” (vgl. das Gleichnis von den fünf Talenten, Mt 25,14-30, bzw. von den zehn Pfund, Lk 19,11-26). Und selig der Mensch, zu dem der Herrgott dann, wenn Er von uns nämlich Rechenschaft verlangen wird, wird ebenfalls sagen können: “Recht so, du guter und treuer Knecht! Über weniges bist du treu gewesen, über vieles will ich dich setzen. Geh ein in die Freude deines Herrn”!
Zumal ja kein Mensch weiß, wie viel Zeit ihm auf dieser Welt von seinem Schöpfer noch gegeben wird! Der eine von uns darf ein hohes Alter erreichen, bis er in die Ewigkeit abberufen wird; der andere wird vielleicht sogar schon in der Blüte seiner Jahre dahingerafft, der dritte stirbt bereits als ein Kind oder Jugendlicher. Wie schnell kann ein Unfall auf der Straße passieren, wie leicht kann ein Flugzeug vom Himmel fallen, wie unverhofft kann man von Überschwemmung, Erdbeben oder irgend einer anderen Naturkatastrophe tödlich heimgesucht werden. Manchmal, wenn man etwas über die größeren oder kleineren Risiken, denen wir uns in unserem Alltag ständig aussetzen, nachsinnt, wundert man sich eher darüber, dass man noch lebt...
Und wenn man bedenkt, wie viele Krankheiten es so alles gibt! Man höre sich da nur in seinem Verwandten- oder Bekanntenkreis ein bisschen um oder besuche einfach jemand im Krankenhaus und interessiere sich eben für dieses Thema. So können heute etwa Krebs, Herzinfarkt und Schlaganfall doch wirklich als eine Art Plage angesehen werden, vor denen keiner sicher ist und von denen praktisch jeder zu jeder Zeit ereilt werden kann.
Mit solchen Hinweisen auf die Gebrechlichkeit und Sterblichkeit der menschlichen Natur wollen wir keinesfalls Trübsal blasen oder Angst und allgemeine Niedergeschlagenheit erzeugen. Auch soll dadurch keinem die vernünftige und in gesundem Umfang sogar notwendige Lebensfreude geraubt werden. Nein, wir wollen uns damit nur in Erinnerung rufen, dass wir nicht ewig auf dieser Welt weilen und wie kurz nämlich die uns noch verbleibende Zeit auf Erden sein kann. Auf diese Weise wollen wir uns sowohl ermahnen als auch ermuntern, diese uns zur Verfügung stehende Zeit richtig, sinnvoll und gottgewollt zu nutzen! Denn es sind zutiefst wahre und zutreffende Worte, welche jemand einmal tätigte, dass nämlich letztendlich nur der Mensch wirklich von echter Freude erfüllt auf Erden leben kann, der nicht vergisst, dass er auch einmal sterben muss, und somit auch nicht vernachlässigt, die Ewigkeit in die Zeit mit einzukalkulieren!
Veranstalten wir jetzt doch einmal ein kleines, aber hoffentlich auch heilsames Experiment. Man stelle sich vor, man müsste gerade in den nächsten Minuten aus dieser Welt scheiden, vor Gott treten und äußerst gewissenhaft Rechenschaft über sein ganzes Leben, über jeden einzelnen der eigenen Gedanken, Worte und Werke ablegen. Fragen wir uns also, ob und gegebenenfalls welchen tieferen Wert unser bisheriges Leben gehabt hat, ob es wirklich sinnerfüllt war, so dass man es nicht bedauert, gerade so gelebt zu haben.
Man darf wohl als gesichert davon ausgehen, dass jeder von uns bei dieser ernsten und schonungslosen Gewissenserforschung erkennen wird, dass er alles andere als in sittlicher Hinsicht perfekt ist, dass er so manches an zahlreichen Verfehlungen bzw. kleineren oder größeren Untaten auf seinem Kerbholz hat. Wer das nicht erkennen wollte bzw. leugnen würde, wäre kein Realist, sondern ein hoffnungsloser Phantast, der sich nur etwas vormacht: “Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns” (1 Joh 1,8). Und je intensiver jemand sein Gewissen schärft, desto klarer erkennt er, dass er, um es allgemein zu formulieren, ein großer Sünder vor Gott ist!
Aber vielleicht werden wir bei dieser Überprüfung unseres bisherigen Lebens trotz alledem ebenfalls feststellen können - so ist jedenfalls zu hoffen -, dass wir auch Momente und Zeiten hatten, welche von echter christlicher Liebe erfüllt waren! Entweder hat man dabei der Wahrheit den Vorzug vor der Lüge gegeben und deswegen vielleicht sogar größere Nachteile in Kauf genommen. Oder man hat die Gottesfurcht eindeutig vor die Menschenfurcht gestellt und sich dann davon auch nicht durch die Kritik oder das Gelächter der anderen abbringen lassen. Oder man hat sich den anderen Menschen sowohl selbstlos als auch aufopferungsvoll zugewandt, ohne in erster Linie an den eigenen Vorteil zu denken. Oder man hat ehrliches Mitleid mit dem Leid und Elend seiner Mitmenschen empfunden, ist ihnen mit Rat und Tat hilfreich zur Seite gestanden, hat sie aufrichtig ins Gebet eingeschlossen. Oder man ließ sein Herz von echter Gottesliebe erfüllt werden und durchschaute die Endlichkeit und Unzulänglichkeit unseres irdischen Daseins. Oder man trug in christlicher Geduld und in der Ergebenheit in den Willen und die Vorsehung Gottes ein etwaiges schweres Kreuz und wurde dadurch auf eine ganz besondere Weise dem von unendlicher göttlicher Liebe erfüllten Herzen des sich für uns zum Opfer hingebenden Heilandes Jesus Christus verbunden. Oder...
Dies sind doch jene Augenblicke, welche unser Leben wirklich bereichern, ja in entscheidendster Weise wertvoll machen! Sie sind wie das Salz in der Suppe und vermitteln unserem Sein einen höheren Sinn und eine tiefere Bedeutung! Und wir empfinden sie ja auch, wenn man nachdenkt, als jene kostbaren goldenen Momente, welche unserem Leben die Ausrichtung auf das Wesentliche und allein Beständige und Unwandelbare vermitteln und welche wir dann auf keinen Fall wieder missen wollen! So sind wir doch auf diese Weise letztendlich sogar Gott selbst begegnet und haben einen echten Hauch des Ewigen, Heiligen und Unvergänglichen erfahren! Ja, selig und wahrhaftig glücklich der Mensch, dessen Herz von Glaube, Hoffnung und Liebe, den drei göttlichen Tugenden, erfüllt ist, der seine Zeit auch auf eine solche höchst sinnvolle und zutiefst bereichernde Weise “angelegt” hat ...und der dann dem Herrgott beim Jüngsten Gericht auch davon zu berichten wissen wird!
“Unruhig ist unser Herz bis es ruht in Dir”. Zu dieser Erkenntnis kam der hl. Augustinus, nachdem er jahrelang etliche Irrwege beschritten hatte, wie er in seinen “Bekenntnissen” selbst freimütig berichtet. Wollen auch wir aus unseren etwaigen Fehlern lernen und die uns vom Herrgott geschenkte Zeit bewusst sinnvoll nutzen. Mögen uns in unserem Leben auch keine weltbewegenden Entscheidungen abverlangt werden, aber wenn wir unseren scheinbar kleinen Dingen und Aufgaben mit echter und uneigennütziger Liebe im Herzen nachgehen, gewinnen sie sowohl in den Augen Gottes einen großen Wert als auch vermitteln sie unserem Dasein eine solche Würze, welche ihm einen tieferen Sinn und geistige Erfüllung geben! Dann kann man seine Zukunft getrost in die Hände Gottes legen und sowohl auf Sein großes Erbarmen mit unseren Verfehlungen in der Vergangenheit als auch auf Seine lebenspendende Gnade für die kommenden Zeiten hoffen!

P. Eugen Rissling


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