Geben und Nehmen 


Es gibt bestimmte Regeln und Mechanismen des Alltags, die in gewisser Hinsicht nicht nur für viele Bereiche des menschlichen Lebens gelten, sondern auch dann greifen und ihre Wirkung entfalten, wenn man sich ihrer im betreffenden Moment nicht unbedingt bewusst sein sollte. Zu solchen Regeln gehört ohne Zweifel auch der Grundsatz vom Geben und Nehmen. 

So weiß z.B. jeder gute Unternehmer, dass er an Geld oder Gütern nicht mehr ausgeben kann als er durch seine eigene Leistung oder durch die seiner Angestellten erarbeitet. Die Ausgaben müssen in jedem Fall den Einnahmen entsprechen. Denn stimmen beide Bereiche nicht miteinander überein, erleidet jeder Betrieb früher oder später Bankrott! So tritt die Geltung dieses Grundsatzes für jedermann bei Tarifverhandlungen in der Wirtschaft oder bei den Haushaltsdebatten im Parlament ebenfalls deutlich zu Tage. Ein Staat oder ein Betrieb kann zwar Schulden machen, aber dieses sogenannte Leben auf Pump wird sich bitter rächen, weil das Problem hier nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben wird. 

Nach gleichem Schema aber verläuft nicht nur das Wirtschaftsleben - auch im religiösen Bereich verhält es sich ähnlich, in der Beziehung des Menschen zu Gott, seinem Schöpfer und Erlöser. Wenn wir uns einmal ernsthaft überlegen, wieviel wir vom lieben Gott Tag für Tag empfangen! Wir leben, haben unser Auskommen, sind einigermaßen gesund (oder waren es lange genug). Wir sind getauft und gefirmt worden, wir dürfen aus dem Vollen schöpfen aus dem Gnadenschatz der Erlösung und der Kirche. Wie oft sind wir vor irgendeinem Übel oder Unglück bewahrt worden, wie oft hat uns die Gnade Christi getröstet und neuen Mut vermittelt?... Mit anderen Worten: wir nehmen ständig und praktisch ohne Unterlass vom Herrgott! 

Dabei sollten wir uns aber auch überlegen, ob wir nicht manchmal Ihm auch etwas geben könnten! Nun, es ereignet sich im Leben eines jeden Menschen immer etwas, was ihn nicht unbedingt mit großer Freude erfüllt. Krankheit, Enttäuschungen, äußerer Misserfolg, persönlicher Verlust, erlittenes Unrecht usw. belasten normalerweise das Gemüt eines jeden von uns und rufen in uns nicht selten Unmut, Schwermut, Unzufriedenheit oder Frust hervor. Aber vielleicht sollten wir versuchen, gerade diese Augenblicke des über uns bisweilen hereinbrechenden Unglücks ganz bewusst als etwas zu betrachten, was wir dem lieben Gott, der so viel auf Seinem Leidensweg durchgemacht hat, als eine Opfergabe schenken könnten. Vielleicht sollten wir uns bemühen, diese sonst traurigen Momente gewissermaßen “umzuwandeln” in etwas, was wir dem Herrgott als ein Geschenk darbringen. Vielleicht wartet Er sogar darauf, dass wir von Ihm nicht nur ununterbrochen nehmen, sondern auf diese Weise auch einmal etwas geben! 

Natürlich hat Jesus Christus, unser göttlicher Erlöser, auf Seinem Leidensweg die volle Sühne für die Sünden der ganzen Menschheit geleistet. Er allein “hat die Schuldschrift, die uns mit ihrer Anklage belastete, ausgelöscht und vernichtet, da Er sie ans Kreuz heftete” (Kol 2,14). Da aber die Aneignung der Gnaden dieser Erlösung nur auf dem Weg der lebensmäßigen Zustimmung und Einwilligung zu diesem stellvertretenden Leiden des Gottessohnes erfolgt (und erfolgen kann!), so ist auch uns ein Bereich überlassen worden, wo wir unser “Mitsterben” mit Christus (vgl. Kol 3,3) praktizieren können und sollen. 

Wenn sich also ein Christ bewusst bemüht, alle Widerwärtigkeiten des Lebens aufzuopfern, wenn er das eigene Lebenskreuz tapfer und geduldig trägt, wenn er es als einen Teil jenes Kreuzes erkennt und betrachtet, das der Erlöser selbst getragen hat, dann erbt er nicht nur den beseligenden Segen Christi, der ihm auch den inneren Frieden trotz mannigfaltiger äußerer Widerwärtigkeiten vermittelt, sondern gibt darüberhinaus dem Herrgott gewissermaßen auch einen winzigen Bruchteil dessen zurück, was Er an uns in verschwenderischer Weise ausgeteilt hat! 

Der Inhalt des Bußgedankens, der im christlichen Glauben eine wichtige, ja zentrale Rolle spielt, die Bedeutung der Bußwerke, denen ein Jünger Christi obliegen soll, bestehen nicht einzig und allein etwa darin, sich zur Strafe für die begangenen Übertretungen der göttlichen Gebote zu quälen. Nicht ausschließlich und vordergründig der Gedanke der Bestrafung für begangenes Unrecht, so wichtig er auch ist, darf die entscheidende Rolle bei der christlichen Buße spielen, sondern schließlich der der Liebe, der göttlichen Liebe! 

Denn was bewirken unsere Sünden anderes als die Verletzung der unendlichen Liebe Gottes, der Sein Leben zu unserem Heil hingegeben hat. “Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe” (Joh 3,16)! Und wenn ein gläubiger Mensch erkennt, dass er mit dem Zuwiderhandeln zum heiligen Willen Gottes Ihn im Innersten Seines Wesens trifft und beleidigt, dann fühlt er sich auch veranlasst, zur Wiedergutmachung dieser verletzten Liebe Gottes seinen eigenen Beitrag zu leisten! Wie man es als selbstverständlich erachtet, einem geliebten Menschen den Beweis für die eigene Gesinnungsänderung zu erbringen, wenn man ihn irgendwie verletzt hat, so soll es auch für den Bereich unserer Beziehung zum Herrgott gelten! Und wodurch kann man am sinnvollsten diesen Ersatz für den Mangel an Liebe zu Gott erbringen als durch das anderweitige Übermaß an Liebe? Beflügelt von dieser edelsten Gesinnung hat ja auch eine Vielzahl von Jüngern Christi im Laufe der Kirchengeschichte in Seiner Nachfolge einen zwar menschlich-bescheidenen, aber dennoch gut gemeinten Ersatz für die sonstige Verletzung der Liebe Gottes geleistet. Auch unsere Bußwerke, die uns entweder im Leben auferlegt werden oder die wir vielleicht sogar freiwillig im Rahmen unserer Kräfte auf uns nehmen, sollen ebenfalls diesem Ziel dienen. Wenn man weiß, dass das Leid nicht (mehr) sinnlos ist, wenn es im Geiste Christi und in Vereinigung mit Ihm ertragen wird, dann wird sich der Mensch nicht mehr auflehnen gegen das eigene Lebenskreuz, sondern es vielleicht auch eher als Gelegenheit erblicken, die eigene Liebe zum Herrgott unter Beweis zu stellen! 

Ein anderer Gesichtspunkt soll in diesem ganzen Zusammenhang noch betrachtet werden. Zwar wird jeder Mensch schließlich nur für sein eigenes Tun und Lassen vor dem Richterstuhl Gottes Rechenschaft ablegen müssen, zwar werden wir uns nicht einmal für die Sünden oder die guten Taten unserer Eltern oder Kinder zu verantworten haben, dennoch haben wir alle eine wenigstens indirekte Mitverantwortung füreinander. Denn wir alle sind Kinder Adams und Evas, wir alle bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Freut man sich ja auch für jeden Erfolg eines Menschen, dem man sich irgendwie verbunden fühlt, und empfindet mit ihm andererseits auch bei einem Misserfolg. Betrachtet man also eine Gesellschaft oder sogar die ganze Menschheit in ihrer Gesamtheit, ist auch hier zu fragen, wie häufig denn seitens eines Volkes oder der menschlichen Gesellschaft der liebe Gott mißachtet, beleidigt, abgelehnt und verspottet wird. Sollte Er nicht nur mit jedem Einzelnen, sondern auch mit der Gesamtheit der Menschen ins Gericht ziehen, wie würde dann unsere moralische Bilanz aussehen? 

Offensichtlich wird auch hier dringend Ausgleich zu schaffen sein (in welchem Maß er für uns, Menschen, halt überhaupt möglich ist) für alle die Ungerechtigkeiten und Bosheiten, die den Herrgott herausfordern. Ein Christ, der sowohl mit der Sache Gottes mitempfindet als auch sich nicht nur in den sogenannten guten, sondern auch in schlechten Tagen mit anderen Menschen solidarisiert, wird sich auch hier veranlasst sehen, durch bewusste Erweckung und Praktizierung der Liebe für die mannigfaltige Verletzung der göttlichen Liebe einigermaßen Ersatz leisten zu wollen. Wie Abraham um die Abwendung des Unheils von den Gerechten in Sodoma rang (vgl. Gen 18,22-33) und Moses das Zorngericht Gottes vom Volk Israel aufhielt, das dem Götzendienst verfiel (vgl. Ex 32,7-14), so waren es im Laufe aller Jahrhunderte in der Regel Gerechte, Büßer und Beter (ob im Kloster oder außerhalb desselben), die der Christenheit durch ihr Opfer viel Segen und Wohlergehen vom Herrgott vermittelten. 

Von dieser Erkenntnis angeregt, wollen auch wir alle Unbilden des Alltags, sämtliches Kreuztragen, Leiden und Beten, jegliche Buße und Opfer dem Herrgott aufopfern, um Ihm möglichst auch unsererseits eine bescheidene Gabe darbringen, geben zu können! 

 

P. Eugen Rissling



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