Die Versuchung


In der sechsten Bitte des “Vater unser” lehrt uns der Herr beten: “ Und führe uns nicht in Versuchung”. Den Zeitgenossen Jesu und der jungen Kirche war es - im Unterschied zum überwiegenden Teil der heutigen Christenheit - bewußt, daß der Glaubensabfall sowohl die größte Sünde vor Gott, als auch das schlimmste Elend für den Menschen selbst darstellt.


Das ganze Alte und Neue Testament ist durchdrungen von diesem Gedanken. Deswegen bitten die Jünger, sie möchten nicht in die Versuchung geraten, vom lebendigen und wahren Gott abzufallen. Zwar bedeutet die Versuchung allein (die nicht willentlich herbeigeführt wurde) noch nicht, sich mit einer Schuld belastet zu haben. Da aber niemand vermessen sein darf zu behaupten, er würde der entsprechenden Versuchung gewachsen sein, werden wir angeleitet, um die Befreiung von der Gefahr des (gänzlichen) Abfalls von Gott inständig zu bitten.

Es gibt verschiedene Wege, den Glauben zu zerstören. Oft wurde in der Geschichte zu diesem Zweck äußere Gewalt angewendet. Man unternimmt den Versuch, den Menschen in irgendeiner Weise zum Glaubensabfall zu zwingen, sei es durch körperliche Qual, sei es durch Erpressung oder etwas derartiges. Gelegentlich ließ sich mancheiner auch durch die Gewährung irgendeines materiellen oder eines sonstigen Vorteils vom Glauben abbringen. Zwar waren und sind diese Methoden nach außen hin ziemlich wirksam, dennoch sind sie im Prinzip erfolglos, wenn und weil die Glaubenskraft der Bekenner Jesu Christi stärker ist. Auch wenn sich jemand (aus Schwäche) zu etwas zwingen läßt, wird seine (innere) Überzeugung dennoch nicht unbedingt gebrochen!

Im Laufe der Zeit kamen die großen und kleinen Willkürherrscher und Despoten - wer auch immer sie gewesen sein mochten oder auch sind (!) - immer mehr zur Erkenntnis, daß sie trotz äußerer Überlegenheit und äußeren Triumphes das Innere des Menschen, d. h. seinen Geist, nicht gewinnen bzw. nicht gewinnen können. Denn Zwang bedeutet keinesfalls Überzeugung, er bedeutet nicht, mit dem Herzen dabei zu sein! Da aber das Böse äußerst erfinderisch in den Mitteln ist, um die gesetzten Ziele tatsächlich zu erreichen, kommt man schließlich zum Ergebnis, daß die Überzeugung der Menschen zu untergraben sei, will man ihn nicht nur äußerlich besiegen. Nur auf diesem Wege kann der Mensch “überwunden” werden, nur so wird er innerlich vernichtet! Und dieser Prozeß der Vernichtung jeglicher Moralität kann sich - nebenbei vermerkt - auf allen Ebenen und in allen Bereichen der zwischenmenschlichen Beziehungen abspielen. Einem relativ kleinen sogenannten Kavaliersdelikt kann unter Umständen dem Wesen nach dasselbe boshafte Denken zugrunde liegen. Man soll nicht meinen, nur die ausgesprochenen Feinde Gottes könnten so verfahren.

Dieser Prozeß der Untergrabung der (gesunden) Überzeugung beginnt in der Regel mit dem Aussäen von Zweifeln. Manche wichtige Glaubenswahrheiten werden böswillig angezweifelt, man wendet ein, dies oder jenes kann so oder so, d. h. in mehrfacher Bedeutung, verstanden werden. So bearbeitet fragen sich dann die Menschen, ob ihr Glaube, den sie bis dahin hatten, wirklich stimmt oder ob sie vielleicht einem massiven Irrtum unterlegen sind. Die Klarheit im Glauben schwindet, man empfindet immer weniger Interesse für ihn.

An dieser Stelle wollen wir natürlich auch darauf hinweisen, daß jeder von uns - besonders in Bezug auf sich selbst, auf sein eigenes Denken und Empfinden - kritisch sein sollte. Auch unser Glaube soll von uns einer Überprüfung unterzogen werden, denn es können sich bei uns sehr leicht z. B. irgendwelche Elemente ungesunder Religiosität einschleichen. Nur gibt es einen großen Unterschied, ob Fragen in guter Absicht gestellt werden, um zur vollen Wahrheit, zum vertieften Glauben, zur Klarheit, die alle Bereiche umfaßt, zu kommen, oder ob grundsätzlich nur die Vernichtung der lebendigen Religiosität das Ziel von ausgestreuten Zweifeln und Mehrdeutigkeiten ist. Daran scheiden sich eben die Geister!

Eine weitere Methode den Menschen den (festen) Glauben zu nehmen, ist, die konsequenten und eindeutigen sittlichen Forderungen des Evangeliums zu lockern. Gott verlangt vom Menschen den entschiedenen Willen zur Erfüllung Seines Willens! Der Christ sollte bereit sein, um Gottes willen auch manches (in der Zwischenzeit vielleicht sogar liebgewordene) Hindernis zu überwinden, was ihm nicht unbedingt als angenehm vorkommen oder leicht fallen muß. Nur wenn er diesen Schritt tatsächlich vollzieht, liebt er Gott wirklich und nicht nur mit Worten.

Lockert man nun etwas diese Forderungen, kann man den Menschen relativ leicht für die eigenen Auffassungen “begeistern”, er läßt sich dann ohne allzu große Mühe ins andere Lager hinüberziehen. Weit brauchen wir nicht zu gehen, um Anschauungsbeispiele zu bekommen. Einer der Gründe dafür, daß die große Mehrheit der Katholiken die letztendlich zerstörerischen Reformen in der Kirche übernommen hat und es auch weiterhin tut, liegt darin, daß ihnen permanent Erleichterungen auf dem sittlichen Sektor gewährt werden. Manches kann tatsächlich an die Gegebenheiten und die Umstände der Zeit angepaßt werden, am Prinzip selbst darf dagegen unter keinen Umständen gerüttelt werden! 

Durch die geschilderten Verharmlosungen der Prinzipien wird erreicht, daß der Frontverlauf zwischen Gott und der Sünde verwischt wird. Der Mensch weiß dann nicht mehr eindeutig, was wahr und was falsch, was gut und was böse ist, wo die Grenze zwischen beiden verläuft. Dem folgt als unausweichliche Konsequenz eine Verminderung des sittlichen Einsatzes, denn der Mensch weiß ja nicht mehr genau, wofür er sich und seine Kräfte einsetzen soll. Die entsprechende Motivation für Gott und Seine Sache geht verloren. Auf diese Weise wird der ganze Mensch lahm gelegt und letztendlich auch moralisch vernichtet! Und diese Vorgehensweise ist eben die List sowohl der heutigen liberalen Welt als auch der kirchlichen Bewegung des Modernismus. Da jegliche gesunde Überzeugung beseitigt werden sollte (weil sie unter Umständen sehr unbequem werden könnte), betreibt man die Einschläferungstaktik!

Wenn die Menschen nicht in objektiver Weise auf entstandene Fragen und anstehende Probleme aufmerksam gemacht werden, dann wissen sie ja auch nicht mehr, um was es letztendlich geht. Wird nicht auf Probleme hingewiesen, die durch die unheilvollen Reformen in der Kirche entstanden sind, und sachlich darüber gesprochen, ist eher mit der stillschweigenden Annahme dieser Reformen samt ihrer großen und folgenschweren Widersprüche durch die breite Masse des Kirchenvolkes zu rechnen. Das Totschweigen der Probleme vermindert ja die Aufmerksamkeit und Wachsamkeit der Menschen! Und mit der Zeit läßt sich das Volk immer mehr von den sogenannten modernen Ideen der Neuerer zumuten. Ein hoher Würdenträger der Amtskirche äußerte einmal seine Meinung, man solle sich - sinngemäß - nicht (mehr) öffentlich mit dem kirchlichen Widerstand auseinandersetzen, er werde dann schon von selbst verschwinden. Die Frage nach der Wahrheit wird hier offensichtlich bewußt ausgeklammert! Aber das ist ja gerade das Gefährliche und Teuflische an dieser Einstellung!

Deshalb gibt es im kirchlichen Bereich immer weniger Widerstand gegen diese verhängnisvolle Entwicklung. Denn ein Frontalangriff gegen die geoffenbarten göttlichen Wahrheiten ermutigt zum Nachdenken und fördert die Besinnung auf das Wesentliche. Offene Verfolgungen des Glaubens wecken und fördern geradezu das religiöse Bewußtsein der Menschen. Die nicht an der Wahrheit orientierte Interpretation des Glaubens vernichtet dagegen jegliche Überzeugung und somit auch den Glauben selbst!

Seien wir darum wachsam, und lassen wir uns nicht durch die schmeichelhaften Worte einwickeln! Der Gefährdung, durch modernistische Interpretationen oder durch die Abschwächung der kompromißlosen Forderungen Gottes letztendlich den festen und lebendigen Glauben zu verlieren, sind wir mehr oder weniger alle ausgesetzt, niemand ist schon von zu Hause aus gegen sie gefeit. Gerade in der heutigen Zeit der massiven sittlichen und dogmatischen Gleichgültigkeit ist verstärkt mit dieser Versuchung zu rechnen. Dem kann man nur durch Gebet und eine intensive Bemühung um Gott begegnen! Wir sollen ja die “Waffenrüstung Gottes anlegen” und “stark im Herrn” sein, weil unser Kampf nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die finsteren Mächte der Unterwelt gilt (vgl. Eph 6,10-18)! Bewußt gelebtes Christentum ist eben der beste Schutz gegen alle Gefahren und Versuchungen, die dem Menschen in seinem Leben begegnen!

 

P. Eugen Rissling



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