Jesus der Herr

Es gibt heute im Umgang der Menschen miteinander kaum einen so oft verwendeten Titel wie „Herr“. Dabei kann man eigentlich gar nicht mehr von einem wirklichen Titel sprechen. Egal welchen Standes oder welcher Berufsgruppe, spätestens ab der Volljährigkeit wird ein jeder Mann als Herr angesprochen. Das war nicht immer so, ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Herrentitel, vom Althochdeutschen herro, zunächst eine Höherstellung gegenüber dem Niedrigeren war. Im späten Mittelalter hatte die Bezeichnung einen ständischen Charakter und kam praktisch nur noch dem Adel zu.
Mit der zunehmenden Bedeutung des städtischen Bürgertums weitete sich der Name Herr immer weiter aus, für Geistliche, Familienoberhäupter und Amtmänner.
Schließlich, etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts, wurde die Anrede langsam nur noch eine gewöhnliche Höflichkeitsfloskel.
Welche Bedeutung hat es also eigentlich, wenn wir Jesus Christus mit diesem Titel ansprechen, der heute nur noch ganz alltäglich und profan verwendet wird? Es erscheint uns wahrscheinlich schon ganz selbstverständlich, zu unserem „Herrn“ zu beten, zu Beginn der Messe das „Kyrie eleison“ (Herr, erbarme dich unser) zu singen und fast jede Bitte „durch unseren Herrn“ vorzutragen.
Um alles über diesen Hoheitstitel Jesu Christi zu erfahren, müssen wir fast zweitausend Jahre zurück, in urchristliche Zeiten blicken.
In dieser Zeit, als das Griechische die Kultursprache schlechthin war und sich das Christentum vor allem im hellenistischen Raum ausbreitete, erscheint es nur logisch, dass Jesus Christus mit dem griechischen Wort für Herr, Kyrios, angesprochen wird. Zunächst hatte der Begriff eine ähnliche Bedeutung wie sein germanisches Äquivalent, so viel wie Gebieter oder Besitzer. Doch schon damals kannte man „Herren“ abseits des rein weltlichen Sprachgebrauchs, es gab „Kyrios“ und „Kyria“, Götter und Göttinnen. Aber den einen Kyrios, den einen absoluten, göttlichen Herrn, den gab es im orientalisch-hellenistischen Raum nicht. Im 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther zeigt sich schon, dass trotz gleicher Ausdrucksweise Heiden und Christen ein vollkommen anderes Verständnis für das gleiche Wort haben: „…wie es denn viele Götter und viele Herren gibt, für uns gibt es nur einen Gott…und nur einen Herrn Jesus Christus.“ (8,5f)
In wie weit dieser Name schon als Hoheitstitel von den Jüngern Jesu vor der Auferstehung erkannt wurde, kann die Wissenschaft letztendlich nicht klären. Jesus Christus selbst gebrauchte ihn aber bereits, auch im religiösen Kontext, „denn Herr über den Sabbat ist der Menschensohn“ (Mt 12,8).
Wenn aber nun Jesus den Anspruch erhebt, alleiniger und absoluter Lehrer und Herrscher zu sein und Er als Herr angesprochen wird, personifiziert der Herrentitel diesen Anspruch. Klar ist aber, dass selbst diese Höflichkeitsformen, angewandt auf Jesus Christus und seinen eigenen Vollmachtsanspruch, selbst diesen Anspruch zum Ausdruck bringt (ähnlich, wie wenn man von „dem Präsidenten“ spricht und dabei natürlich klar ist, welche Person dahinter gemeint ist).
Er ist der einzige Lehrer und Herr, der diesen Anspruch erhebt, also wird Er zu dem einen Herrn.
Eine ganz herausragende Rolle hat der Herrentitel Christi in der Gründung der Urgemeinde. Denn ohne Jesus als Kyrios wäre es erst gar nicht zur Gemeindegründung gekommen!
Der Enthusiasmus, das vom Glauben tief durchdrungene Leben der ersten Gemeinde, lässt sich nur mit der intensiven Hoffnung auf das Ende, der glorreichen Wiederkehr Christi, erklären. Diese Hoffnung war viel intensiver, als es sie jemals im Judentum gegeben hat. Und die einzige Erklärung dafür ist, dass die Jüngergemeinde von der festen Überzeugung war, die Endzeit sei bereits mit der Auferstehung Christi angebrochen. Mit dieser Auffassung war aber die Schlussfolgerung verbunden, dass Jesus nicht nur der kommende Menschensohn ist, „zu richten die Lebenden und die Toten“, sondern auch in der Gegenwart eine Bedeutung haben muss. Diese Gegenwart galt schon damals als erfüllte Zeit.
Im Zentrum des christlichen Glaubens steht ja die Auferstehung, und da Christus bereits von den Toten auferstanden ist, so ist der Tod schon vollends besiegt - die Wende ist vollbracht!
Zwar hatten die jungen Christen damals nur mit einer kurzen Dauer bis zur Wiederkehr Christi gerechnet, aber trotzdem musste Christus während dieser Zeit eine gewisse Funktion haben. Das Werk Christi kann ja nicht für unbestimmte Dauer brach liegen. Und genau in diese „Lücke“ tritt der „Herr“ Jesus Christus (vgl. 1 Kor 9,1). Damit wird auf das gegenwärtige Wirken Christi hingewiesen. Von diesem Titel ausgehend kann man das Werk ganz betrachten, das Sühnewerk und die herrliche Wiederkehr. Aber alles ist mit der Freude und Gewissheit zu sehen, dass Christus schon jetzt und hier, in der Gegenwart, seine Herrschaft ausübt.
So vereinigt sich damit auch der Messiasgedanke. „Gott hat Ihn zum Herrn und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Act. 2, 36). Jesus wurde die Würde des Messias zeitgleich mit der Herren- bzw. Kyrioswürde nach der Auferstehung zusammen verliehen. Denn erst jetzt hat Christus eine tatsächliche Herrschaft als Kyrios-Herr und Messiaskönig.
Das „Jetztsein“ Christi wird außerdem in der heiligen Messe so eindringlich deutlich und lebendig, verständlich für Jedermann. Genauso wie die Urchristen einst, als man die Messe noch das „Brotbrechen“ nannte, erleben wir auch jetzt die Gegenwart des auferstanden Christus als Realität – immer wieder aufs Neue! Wie Jesus einst wiederkehren wird, so kommt Er jetzt schon in seine Gemeinde. Dieser Verweis auf die kommende Zukunft findet sich schon im Bericht des Paulus über die Einsetzung der hl. Messe: „Denn sooft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. (1. Kor. 11, 26)
Wie wir wissen, war Christus schon zu Beginn aller Zeiten im Besitz der göttlichen Natur, aber auf Grund seines Gehorsams bis zum Kreuz wurde Ihm diese Funktion der Gottgleichheit nun von Gott dem Vater gewissermaßen selbst verliehen, „Gott hat diesen Jesus zum Herrn und Messias gemacht“ (Act. 2, 36). Mit der Erhöhung am Kreuz wurde Christus zum Kyrios erhöht.
Dabei steht der Herrentitel für den Namen, der nicht überboten werden kann. Es ist der Name Gottes selber, aus der Übersetzung des hebräischen „Adonaj“. Dazu ist auch von Interesse, dass in den antiken Religionen ein Name tatsächliche Macht bedeutete. Vergibt nun Gott seinen Namen an Christus, so bedeutet das, dass er Ihm seine ganze Herrschaft überträgt.
Von nun an sind Ihm alle Mächte der Schöpfung untertan, der sichtbaren und unsichtbaren Welt. „Jedes Knie derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, sich vor Ihm beugt, und jede Zunge bekennt: Jesus Christus ist der Herr“ (Phil. 2, 9ff).
Der eigentliche Würdetitel Gottes wurde auf seinen Sohn übergeben. Und so zitiert z.B. Paulus aus dem Psalm 102: „Du, Herr, hast am Anfang die Erde gegründet, und der Himmel ist deiner Hände Werk.“ Offensichtlich spricht der Text von Gott Vater als Schöpfer. Nun spricht aber der Verfasser dieses Briefes Jesus als Schöpfer des Himmels und der Erde an! Obwohl Christus schon von Anfang an Gott ist, wird Er von den Menschen erst mit der Erhöhung als gottgleich erkannt. Mit der Übertragung des Kyriosnamens wird Christus (in der Augen der Menschen) wirklich eins mit Gott, Gottes Attribute sind direkt auf Ihn übertragbar.
Im direkten Zusammenhang dazu steht auch die Erwähnung im Neuen Testament, die schon früh Aufnahme ins Credo fand, dass Jesus nämlich „zur Rechten Gottes sitzt“. Der Bezug zu Psalm 110: „Spruch des Herrn für meinen Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis Ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache.“
Diese Aussage ist nichts anderes, als ein weiterer Ausdruck zum Bekenntnis „Kyrios Christos“.
Während die Juden in den „Feinden“ des Psalms irdische Gegner Israels sahen, deuten die Christen sie vielmehr als höhere Gewalten, (vgl. 1. Petr. 3, 22), also Mächte der unsichtbaren Welt. Das zeigt noch einmal deutlich, dass es neben Christus keinen anderen Herrscher mehr gibt – weder im Himmel, noch auf Erden! Weltliche Feinde haben keinerlei Bedeutung mehr.
Die Herrschaft Christi also erstreckt sich über alle Gebiete der Schöpfung. Wäre das nicht der Fall, wäre Christus nicht mehr der universale Herr. Gerade auch der Bereich des Staates, was seit der so genannten Aufklärung des 18. Jahrhunderts im Zuge der zunehmenden Säkularisierung leider immer mehr vergessen gegangen ist, fällt ebenfalls in seinen Herrschaftsbereich!
Auch ist Christus nicht nur Herr über das All, sondern ganz besonders Herr der Kirche. In den Briefen an die Kolosser und Epheser wird Christus als Haupt seiner Kirche bezeichnet. Dabei ist diese Kirche nicht nur Teil seiner Gesamtherrschaft, sondern Mittelpunkt seiner Macht, von der aus die Regierung ausgeht! Anders als in allen anderen Herrschaftsteilen ist Christus, dessen Kirche sein mystischer Leib ist, hier ganz besonders gegenwärtig. Denn während sich die Glieder der Kirche der Oberherrschaft Christi bewusst sind, gehören die anderen Glieder der Herrschaft nur unbewusst an. Ein Glied Christi zu sein heißt nicht nur, von Ihm „beherrscht“ zu werden, sondern auch, an dieser Herrschaft teilzuhaben. So erklärt sich, warum wir als Christen z.B. auch der staatlichen Macht Gehorsam schuldig sind. Auch die staatlichen Organe üben, insofern sie nämlich für Recht und Ordnung sorgen, als Glieder Christi ebenfalls die Herrschaftsgewalt Christi aus (vgl. Röm 13,1-7).
So erfüllt selbst ein heidnischer Staat, wie früher das Römerreich oder auch unsere heutige Staatenwelt, die immer mehr an gesundem christlichen Glauben verliert, dennoch eine gewisse Aufgabe in der Herrschaft Christi.
Zumindest solange diese Staaten in ihren ihnen zugewiesenen Grenzen bleiben und sich nicht selbst „vergöttlichen“. Beispiele für eine solche „Vergöttlichung“ gibt es zur genüge, auch in jüngerer, deutscher Vergangenheit.
Christus bleibt aber natürlich nicht nur in eher abstrakter Weise Herr über Kirche und Staaten. Wir müssen uns immer ins Bewusstsein rufen, dass wir selbst Christus untertan sind, einfache Arbeiter für seinen Weinberg. Christi Herrschaft hat absoluten Anspruch, auf unsere ganze Person. Christus ist nicht nur Herr des Alls oder der Gemeinde – er ist unser aller Herr, der Herr jedes einzelnen.
Gerade auch in der frühen Christenheit hatte die Formulierung „Kyrios Christus“ eine besondere Bedeutung in der Verfolgung. Man verlange von den Christen, dem Kaiserbild Opfer darzubringen und dabei zu bekennen: „Kyrios Kaisar“, der Kaiser ist der Herr.
Wie viele Christen hielten treu zu ihrem Erlöser, trotz der Gefahr des nahenden Todes und furchtbarer Folter! Gäbe es noch einen anderen Herrn, dann hätte der Kyriostitel keine Bedeutung mehr. Lieber ging man in den Tod, als den einzig wahren Herrscher gegen einen selbsternannten Ceasaren einzutauschen. In Anspielung auf den Kaiserkult schreibt Johannes in der Apokalypse: „Sie werden Krieg führen gegen das Lamm, doch das Lamm wird sie besiegen; denn Herr der Herren ist es, König der Könige“ (17, 14).
Um an dieses Königtum Christi, das in untrennbarer Verbindung zu seiner Herrschaft steht, zu erinnern, führte Papst Pius XI. 1925 das Christkönigsfest ein. Dabei sollen wir uns jedes Jahr am letzten Sonntag im Oktober noch einmal ganz deutlich in Erinnerung rufen, dass Jesus Christus das Königsrecht durch seine Gottessohnschaft und durch die Erlösung zusteht. Alle Welt soll sich seinem süßen Joch beugen und sich seinem sichtbaren Reich, der Kirche, unterwerfen. „Auf ewig thront der Herr als König“ (Ps. 28, 10), heißt es in der Communio dieser Messe.
Deswegen müssen wir selbst immer wieder daran denken, welchem Herrn wir Rechenschaft schuldig sind. Von uns verlangt heute niemand mehr, das körperliche Martyrium zu erleiden. Und trotzdem beugen in der Gegenwart so viele die Knie und rufen gewissermaßen: „der Kaiser ist der Herr!“ Und Kaiser gibt es viele, gerade in dieser modernen Welt. In dem Paradies des Konsums und des Sittenverfalls dreht sich die Welt immer schneller und konfuser, man kann sich kaum noch entscheiden, welchem Herrscher man sich unterwerfen will. Die weltlichen Entscheidungsträger, die heute so aufgeklärt und laizistisch sein wollen, machen sich zu Göttern über Leben und Tod, verändern die Schöpfung wie es ihnen passt und möchten am liebsten gewaltsam die Natur des Menschen verändern. Mögen es kommende Euthanasiegesetze, die massenweise Ermordung ungeborenen Lebens oder „Gender-Mainstreaming“ (Neudeutsch für die absolute Gleichschaltung von Mann und Frau) sein, Beispiele gibt es mehr als genug.
Und so schwer es auch fällt, vereinzelt oder in kleinen Gruppen als Fels in der Brandung zu stehen, der Glaube an den Herrn verpflichtet! Lassen wir uns wieder von dem Geist der apostolischen Kirche anstecken, die so voll Energie und Leben jeglicher Gefahr trotzte – mit der sicheren Gewissheit: Christus ist jetzt und wird wiederkehren!
Der Herrentitel Jesu Christi ist also alles andere, als eine bloße Höflichkeitsfloskel. Es ist ein feierlicher Hoheitstitel, der Seine einmalige Stellung in der Heilsgeschichte unterstreicht, Ihm gar göttliche Autorität zuspricht! Erinnern wir uns also an die eigentliche Bedeutung dieser Titulierung und denken daran, was unserem Herrn zusteht. Fühlen wir uns gestärkt in dem Wissen, dem Herrn der Herrlichkeit anzugehören, Ihn bitten zu können, ja, diesen großen Herrn sogar in der demütigen Gestalt der kleinen Hostie empfangen zu dürfen. „Wenn du mit deinem Munde bekennst, Jesus ist der Herr, und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott Ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.“ (Rom 10,9). Glauben wir an und bekennen wir von Herzen, Jesus Christus, unseren Herrn!

Julian Voth


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